Semra Ertan – und was seither geschieht

Am 26.05. war Semras Geburts- und Todestag.

Sie wäre 64 geworden, damit ist sie nur zwei Jahre jünger als meine Schwester.

Ich weiß ungefähr, wie das Lebensgefühl der Zeit war, die sie und ich bis 1982 teilten – wie ihr eigenes Lebensgefühl sich darin ausnahm, erfahre ich erst heute.

Das Buch auf meinem Tisch halte ich vor ein paar Tagen zum ersten Mal in der Hand.

Ein Schüler gab es mir zu lesen, ohne große Vorankündigung, außer, er habe da etwas für mich und das sei ‘schön, aber ein bisschen traurig’.

Was mich anrührt, ist nicht allein der Umstand, dass ich es aufschlage und Gedichte vorfinde – Gedichte sind ungesungene Lieder, sie sprechen direkt zur Seele und zum Traumbewusstsein, in Bildern und ohne Umwege, das macht sie zuweilen so unbequem wie den Fremden in der Kneipe, der einem bereits nach dem ersten Bier ungeschönt sein Leben schildert und aufrückt…

Nein, mich wühlt auf, dass ich nur eine Semra aus dem Studium kenne, die nun in meinem Gedächtnis lächelnd auftaucht, nicht aber diese Semra, die so ernst scheint. Diese Semra ist sehnsuchtsvoll, fragend, verletzt, verloren. Sie ist eine Schriftstellerin und Poetin. Diese Semra lebte mitten unter uns in Deutschland.

Und diese Semra hat sich selbst verbrannt.

Rückblende Autonomes Zentrum Heidelberg, 1992: Nie zuvor gehörte, befreiend zornige Musik erklingt, eine Initiation für mich auf der Tanzfläche, wo ich mich völlig auflöse, bis zum letzten Schrei und Akkord. Ich eile zum DJ, lasse mir die CD zeigen: Ein vietnamesischer buddhistischer Mönch auf dem Cover in Schwarzweiß, er hat sich angezündet, brennt lichterloh, sein Name ist Thích Quảng Đức und er stirbt in Saigon, gegen die Unterdrückung seiner Religion durch das Regime protestierend. Jeder halbwegs in dieser Zeit wache Mensch kennt das Bild, die Band und ihr Debutalbum, auch wenn wir den Namen des Mönches vergessen haben mögen; aber wir wissen, dass es in den 60er Jahren passiert ist, dort, in Saigon, und warum.

Dass sich kaum 20 Jahre später eine junge Frau in Hamburg einen Tod in Flammen wählt, weil sie an der Ausländerfeindlichkeit Deutschlands verbrennt, ist nicht abrufbar, wird nicht besprochen.

Entsetzt diskutieren wir bis heute den Tod Hatun Sürücüs, einen sogenannten Ehrenmord. Der kam von außen, geschah in der Familie, in ‘deren Kultur’. Das sind ja die anderen.

Semras Tod kam von innen, geschah durch unser Zu- und Nichttun. Das waren wir.

Und der Name Semra Ertan scheint vergessen…


Günter Wallraff widmete ihr das Buch ‘Ganz Unten‘. Ich las es damals als Teenager, diskutierte es mit den Eltern. Mir fehlt jede Erinnerung an Semra. Und das schockiert mich.

Denn es sagt nicht nur etwas über die Vergänglichkeit meines eigenen Erlebens und den Abbau des alternden menschlichen Gehirns, sondern vor allem etwas über unsere Erinnerungskultur im Land und darüber,

wir leise wir sind, wenn es um unser Schuldigwerden am anderen geht.

Noch immer ist z.B. nicht allen bekannt, wer der NSU ist und dass es ihn gibt. Ich schreibe im Präsens, alles andere wäre völlig realitätsfern und naiv…

Als gebürtige Deutsche erwarte ich von meinem Land, in dem ich persönliche Freiheitsrechte wahrnehme und sie auch anderen in Sprachkursen als kostbare Errungenschaft einer demokratisierten und liberalen Gesellschaft vermittele, die dazugehörige Integrität, eine Glaubwürdigkeit, die über Lippenbekenntnisse und den Betroffenheitsblick der BestatterInnen hinausweist: dass nämlich eine öffentliche und detaillierte Aufarbeitung von immer wieder auftretendem Rechtsextremismus bei Polizei und Bundeswehr sowie jenem bewaffneten faschistischen Untergrund geleistet wird, der Menschenleben kostet, die ebenso einzigartig sind wie das deiner Mutter, meines Vaters, eures Bruders…

Die Namen der Toten von Hassverbrechen sollten uns geläufiger sein als die ihrer MörderInnen.

Und ich erwarte,

dass jährlich laut und öffentlich an Menschen wie Semra Ertan erinnert wird. Dass man in ihrem Namen Begegnungsstätten errichtet, ihr an Schulen Unterrichtseinheiten widmet. Und dass konstruktive Projekte, die ganz allgemein den ‘Hass auf das Andere’ bei den Wurzeln packen, verlässliches Kulturgut in diesem Land werden, in jedem Kuhkaff, nicht nur in den Städten. In Jamel könnte man gern beginnen…

Liebes demokratisches, angeblich entnazifiziertes und integrationsbemühtes Deutschland. Nicht weniger darfst du tun. Kein bisschen weniger.

Denn so integrationsbemüht bist du, liebes Land, dass du Menschen wahlweise zuhauf dort ansiedelst, wo sie sich noch verlorener und ghettoisierter fühlen müssen – Oberkrämer-Bärenklau z.B. könnte wahlweise auch ein Magenbitter sein; den Ort muss man jedenfalls auch erst ‘mal auf einer Karte finden. In Containerbauten quer durch Berlin und anderswo überlässt man die Menschen sich selbst. Mit dem Alibihausmeister und dem Alibizuständigen, hinter dem Zaun mit dem Wachschutz.

Wenn das Absurde und Un-Menschliche für unsere Augen normal geworden ist, hat die dunkle Seite der Macht gewonnen.

Wenn wir weder drängend hinterfragen, warum Synagogen seit der Nachkriegszeit geschützt werden müssen, warum jüdische Friedhöfe bis heute geschändet werden, noch warum sich hier lebende Menschen, die Deutsch sprechen, arbeiten und Steuern zahlen, noch immer nicht als Teil dieser Gesellschaft begreifen dürfen und kaum Freundschaften außerhalb ihrer eigenen ethnischen Wurzeln finden, dann haben wir nur wenig verstanden. Und dann wird es wieder passieren. Es-das-nicht-ausgesprochen-wird. Es, das bereits wieder erblüht.

Muss sich erst wieder jemand anzünden, damit wir aufmerksam werden, wie existentiell niederdrückend das Fremdsein und -bleiben sich auf eine Psyche auswirkt?

Die unfreundlichen Blicke? Die klare Distanzierung? Das ständige Misstrauen im Alltag? Der Sitz im Bus, der frei bleibt, weil man auch schon lange vor Corona lieber stand, als sich in die unmittelbare Nähe eines/ einer Fremden zu begeben…

Semra rief damals beim NDR an und kündigte ihren Freitod an. Mir fehlen dazu Hintergrundinformationen, die über den Bericht in der ‘taz’ hinausgehen. Eine ausgesprochene Selbsttötungsabsicht aber ist etwas Akutes. Sie wird nicht einfach verworfen, weil man sich einmal jemandem erklärt hat. Die Überlegung bleibt im Konjunktiv stecken, doch denke ich, Semra hätte in der Folgezeit nicht allein bleiben dürfen…

Sie starb verzehrt von einem Schmerz, den sie ins Außen trug, damit er für alle weithin sichtbar werde, und weil es wohl ihrem Wesen widersprochen hätte, den Zorn über die ständigen Zurückweisungen gegen andere als sich selbst zu richten.

Der Verbrennungstod ist der dramatischste und unübersehbarste.

Historisch betrachtet, erleidet man ihn meist durch die Hand anderer: als KetzerIn oder Hexe, als jüdischer Mensch in Sternberg im 15.Jh., als Obdachloser in Köln im 21.Jh. …und als Gefangener in Dessau am 7. Januar 2005.

Oury Jalloh – er wäre so alt wie ich, hatte nur wenige Tage vor mir Geburtstag, am 2. Juni – ist schon seit 16 Jahren tot. Auch an ihn möchte ich an dieser Stelle erinnern. Seine Mörder leben frei und unerkannt. Sie haben Familien und Freundschaften, Vorgesetzte, die sie schützen und Teil der Vertuschung geworden sind.

Es ist ein Netzwerk aus organisiertem wie auch unorganisiertem Fremdenhass, das hierzulande zunächst ungesehen, nun immer deutlicher, erstarkt ist.

Und Menschen mit solchem Hass, solch tiefsitzender Angst vor Veränderung, vor dem Fremden, gesteuert von Vorurteilen und Fehlinformationen, aufgeladen in den Meinungsblasen der Plattformen, gehen mittlerweile auch wieder zur Wahl, denn es gibt ja seit 2013 offiziell ihren politischen Arm, der entsprechend wirbt, schützt, verharmlost, abschwächt oder sie, die Hassenden selbst, zu Opfern stilisiert.

Die frühen 30er sind näher, als wir es wahrhaben wollen. Und die Lynchmobs des Mittelalters sind Vorfahren.

In meinem Unterricht gehe ich stets über die Linguistik hinaus, denn um das Land zu verstehen, in dem Fremde Fuß fassen, müssen sie dessen Geschichte und politisches Tagesgeschehen kennen, Literatur und Filme verstehen; es braucht mehr, als den Genitiv (im Gegensatz zu MuttersprachlerInnen) zu kennen und korrekt anzuwenden, um hier zurechtzukommen.

Auch Semras Buch gehört deshalb fortan zum Curriculum.

Und ich hoffe, dass noch viele Lehrkräfte auf sie aufmerksam werden, dass jemand auch hier im Blog auf ihren Namen stößt und selbst recherchiert. Damit Semras Gedichte ihren Weg zu SchülerInnen finden, egal welcher Herkunft.

In meiner frühen Kindheit gab es die liebe ‘Ein-Uhr’, wie ich sie rief, die älteste Tochter einer benachbarten ‘Gastarbeiter’-Familie; mit ihr und auch einigen anderen Migrantenkindern meiner späteren Grundschulzeit verbinden mich nur herzliche Gedanken: Da war die spanische Maria in der ersten Klasse, die verzweifelt versuchte, Deutsch und Lesen zu lernen, doch in der hintersten Sitzbank neben dem stark stotternden Peter kaum mitkam, mit beiden las ich nach dem Unterricht und Maria war sehr nett – drei AußenseiterInnen, die sich mochten, dann war da Niki, der sehr nette Sohn des damals einzigen griechischen Gastwirtes unserer Stadt, er prügelte sich nicht und hatte guten Humor; auf der anderen Grundschule dann schrieb Ali mir einen Liebesbrief und schmückte dazu die gesamte Umkleidekabine der Turnhalle mit Flieder, ich wusste gar nicht, wo ich hinschauen sollte, aber freute mich riesig; Kemal hingegen war ein Grobian, der uns auf dem Heimweg zunächst oft überfiel und auf Raufereien aus war, dann aber schloss er Frieden mit uns – ich denke, er hatte es zuhause nicht leicht, ja…und noch ein Schulfreund, Drazen, blitzgescheit, aus dem heutigen Kroatien, der ebenfalls mit mir in einer Klasse war, im Unterricht Faxen machte und die LehrerInnen gerne in Verlegenheit brachte, aber mit mir zuhause ganz friedlich Berge von Nutellabroten verdrückte und von sich erzählte; es gab Ilgis und ihre Schwester Gül, mit denen ich mich noch ein, zwei Jahre später auf dem Spielplatz traf, wenn auch Gymnasium und Hauptschule uns auseinanderrissen. Warum das so war, ahnte ich damals nicht. Semras Geschichte gibt eine Antwort darauf…

Als ich Herrn Can, den Lehrer der türkischen Klasse 1976 fragte, warum man die türkischen Kinder getrennt von uns unterrichtete, sagte er mit sichtlicher Unsicherheit:”Weißt du, die meisten gehen wieder zurück in die Türkei und sie sprechen kaum Deutsch. Ihr seht euch doch im Pausenhof.” Ja, dort sahen wir uns. In getrennten Grüppchen…

Es ist doch erstaunlich, in was man hineinwächst und was man als gegeben hinnimmt…

Die ersten zwanzig Jahre etwa habe ich mich im Geburtsland Deutschland mit einer Selbstverortung als ‘Europäerin’ und Bürgerin eines geläuterten Einwanderungslandes (das dachte ich früher wirklich!) durchaus sicher und wohlgefühlt. Bereits in den 90ern bröckelte das allerdings, durch viele kleine Situationen, und in ihrer Häufung irgendwann zu viele. Schließlich war es nicht so sehr meine Liebe zu einem Pashtunen, die mich einst erkennen ließ, wie anders die gleiche Stadt, damals Heidelberg, erlebt werden konnte, wenn man fortan als bi-kulturelles StudentInnenpaar durch ihre Straßen ging, nein, es war sogar eher der Moment, als man mich 1998 im Berliner Friedrichshain als ‘Judenfotze’ beschimpfte und draußen vor der ‘Tagung’ Nazis auf mich warteten, bis der Morgen graute und ich Schichtende hatte.

Denn es erwachte ein Gefühl dafür, wie es sein mag, wenn aufgrund eines wie auch immer gearteten Andersseins rohe Gewalt droht, eine Gewalt, die nicht etwa dich als einzelne Person meint, sondern eine ganze Gruppe, der du zugeordnet wirst.

So erhielt ich einen kleinen Einblick, was Menschen anderer Hautfarbe, anderer ethnischer Zugehörigkeit oder Glaubensrichtungen tagtäglich ertragen müssen. Das Gefühl der Gefährdung legt sich über alles, was sie tun, wohin sie sich auch wenden, und es dämpft Freude über Erreichtes, Lebenslust, Hoffnungen, und Zukunftsperspektiven.

Mit welch kaltem Stein der Angst im Bauch Menschen umhergehen, junge Leute, die hierhergelangt sind und sich etwas aufbauen wollen – von um keinen Preis auffallen bis hin zu abwehrbereit sein scheint alles dabei – ist für uns, die nie die Heimat verlassen mussten oder auch für jede/n, der/die in Deutschland blond und blauäugig vor sich hinlebt, vermutlich kaum vorstellbar.

Ja, die Nazis waren nie weg. Die groben Vorurteile in den Köpfen, denen Mitmenschen täglich ausgesetzt sind, auch nicht. Es ist so wichtig wie schon seit Jahrzehnten nicht mehr, sich deutlich zu positionieren und mit eigenem Sprechen und Tun gegen die Ursachen von Ausgrenzung und Rassismus aktiv zu sein.

Wir müssen begreifen, wie es ZuwanderInnen hier schon seit vielen, vielen Jahren geht.

Dazu gehört unbedingt Semras Geschichte.

Bitte lest sie.

Nic

“I believe we could paint a better world, if we learned to see it from all perspectives, as many perspectives as we possibly could. Because diversity is strength. Difference is a teacher. Fear difference, you learn nothing.”

(Hannah Gadsby in ‘Nanette’)